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Weshalb die heilige Verena sieben hungrige Bäuche bringt

Bis M wie «maria» (Pachtgut) haben sich die Redaktoren des «Dicziunari Rumantsch Grischun» inzwischen durch ihre Kartothek gearbeitet. Ein Blick ins neue Doppelfaszikel 169/170 zeigt die Romanen als Meeresfreunde und «Picknicker».

Südostschweiz
19.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Von Jano Felice Pajarola

Chur. – Sie sind ja schon, wie wir alle hier, Binnenwesen, die Rätoromanen, rundum nur von Festland umgeben ist ihre Sprachinsel. Trotzdem – oder gerade deshalb: Auch in der Rumantschia, weit weg von jeglichem Ozean, füllt das Wort für Meer ganze acht Seiten im Wörterbuch «Dicziunari Rumantsch Grischun» (DRG, siehe Kasten). Und die Belege dafür stammen nicht erst aus der Zeit der Strandferien ...

«Mar»: Das Sehnsuchtswort

«In sés dys haa Deis schkiaffyd ilg tschél, é la terra é la maar», in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer erschaffen, so weiss es schon eine alte romanische Bibel, und natürlich ist die christliche Überlieferung voll von «marinen» Stellen. Der Sprung von dort in die Poesie dürfte nicht weit gewesen sein. «Dodast a chantar il mar?» (hörst du das Meer singen?) fragt Schriftsteller Cla Biert (1920-1981). Das Meer, die Sehnsucht: Beides ist eng verbunden mit dem Auswandern, diesem – oft vermeintlichen – Ausweg, den so viele Bündner einst gewählt haben. «Sch'tei vas an Italgia/stos scher sin la paglia/sch'tei vas sur la mar/pos mai plei turnar», gehst du nach Italien, musst du auf Stroh liegen, gehst du weiter übers Meer, kannst du nie mehr zurück, warnt ein Gedicht. Fast wie Sand am Meer gibt es aber auch marine romanische Redewendungen. Tut jemand zum Beispiel etwas Überflüssiges, giesst er Wasser ins Meer («fierer aua en la mar»). Verspricht er das Blaue vom Himmel, dann stellt er Meere und Berge in Aussicht («empermetter mars e muntognas»). Und will er Unmögliches verrichten, versucht er das Meer in einem Schlauch zu halten («tegnair il mar sco in ün uder»). Der Volksmund weiss auch: «Traunter il dir e'l fer sto d'mez il mer», zwischen dem Sagen und dem Tun steht ein Meer. Und keiner würde bestreiten: «Insaziabel ais il mar, il sunteri e l'avar», unersättlich sind Meer, Friedhof und Geizhals.

«Marchà»: Der Rekordhalter

Aber zurück aufs Festland, wo es dann doch gut verständlich ist, dass ein Wort wie «marchà», der Markt, ganze 15 Seiten im DRG besetzt, so viel wie kein anderes Wort in Doppelfaszikel 169/170. Nimmt man die verwandten Wörter dazu, sind es gar 33 Seiten. Auch hier stösst man übrigens auf eine interessante Redewendung: «Haver aviert il marcau da Cuera», die Stadt Chur offen haben, wörtlich übersetzt. Was das heisst? Na ja: Mach den Hosenladen zu ... Der DRG bietet sogar die Möglichkeit, alte Spiele kennen zu lernen. «Il marcadont da Paris» zum Beispiel, der Händler aus Paris. Die Regeln: Man muss dem Händler sagen, was man gern hätte – aber dabei verboten sind «rir e bargir, gie e na ed alv e ner», Lachen und Weinen, die Wörter Ja und Nein, Schwarz und Weiss. Wers nicht schafft, wird bestraft. Ausprobieren?

«Marenda»: Das Arbeitspicknick

Kurz ein Abstecher zum «marclader», zum Raufbold, denn da kann man gleich eine kleine surselvische Schimpftirade lernen: «Ti begl-da-scotga! Fellpiertg! Tgau-botsch! Marclader! Grobian! Valanuot!» Aber Achtung bei eventueller Anwendung am Objekt – der Erguss aus der Feder von Alfons Tuor (1871-1904) ist deftig: Schottenfass! Schweinsgalle! Schafskopf! Schläger! Grobian! Nichtsnutz! Dann doch lieber noch etwas in Sachen leibliches Wohl, nämlich zur «marenda», dem Mittagessen an Werktagen oder Imbiss bei der Feldarbeit – ein spartanisches Picknick könnte man sagen. Eine Bauernregel aus Sumvitg weiss: «Sontga Frena va culla marenda/e vegn cun siat venters», die heilige Verena geht mit dem Zvieri und kommt mit sieben Bäuchen. Weshalb? Am Verenatag, dem 1. September, ist es vorbei mit der Erntezeit und damit mit dem Zvieri auf dem Feld. Für sieben lange Monate.

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