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Wenn der Churer Stadtlärm für einmal mitkonzertiert

Das Churer Ensemble Ö! hat am Montagabend Zeitschichten musikalisch und optisch ausgeleuchtet – und dabei Architektur mit Musik sowie Moderne mit Vergangenheit vermischt.

Südostschweiz
22.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Von Adrian Müller-Diacon

Chur. – Die archäologische Überbauung von Peter Zumthor am Seilerbahnweg in Chur ist ein Bau, der die Funde aus der Römerzeit schützt. Dank seiner Durchlässigkeit äusserer Einflüsse, wie dem Tageslicht, der Strassengeräusche oder auch der Stadtluft, wähnen sich die Eintretenden nicht in einem geschlossenen Raum eines Museums, sondern – zwar in gewisser Weise geschützt und abgetrennt – nach wie vor eingebettet in die Aussenwelt. Dieses spezielle Gebäude diente dem Ensemble Ö! am Montagabend als Konzertraum. Genauso wenig, wie der Raum von der Umwelt abgeschnitten ist, war es die aufgeführte Musik. So fand akustisch und optisch gleichzeitig eine Verschmelzung und ein Aufeinanderprallen statt: Madrigale aus der Renaissance vor der Geräuschkulisse des modernen Stadtlebens in Chur oder etwa ein musizierender Laptop zwischen alten, römischen Mauern, ergaben eine eigenartige Sinnlichkeit. Die Interaktion von Draussen und Drinnen führte aber auch zu witzigen und skurrilen Momenten.

Verschiedene Wirklichkeiten

Von Francisco Guerrero (1951-1997) gelangte «Zayin III» für Streichtrio zur Aufführung. Die nervösen Effekte, meist nahe am Steg gespielt, tönten wie Signale aus dem Weltraum, die entstehen, wenn an einem alten Radio am Sucher zu schnell gedreht wird. Das musikalische Gewirr beendete passenderweise der Knall einer Autotüre, die jemand zuschlug. Unklarer war der Schluss von «Orient-Occident» für Tonband von Iannis Xenakis (1922-2001). Das Publikum pilgerte zur beklemmenden Geräuschwelt vom hinteren Raum in den vorderen. Für die Zuhörenden stellte sich nebst der Frage, ob man eine Aufnahme überhaupt beklatschen kann, auch jene nach der Quelle eines Helikoptergeräusches, das sich gleichzeitig mit dem Ausklingen der letzten Klänge näherte und für Ungewissheit sorgte, ob jenes nun noch zum Stück gehöre oder von aussen hereindringe. Als der Rotorenlärm eindeutig als akustische Immission gedeutet werden konnte, haben die Musikerinnen und Musiker bereits das nächste Stück – «Perspektiven» von Friedemann Treiber (*1971) – begonnen. Eindrücklich paarten sich höchste Töne der Flöte und der Geige zu tiefsten des Kontrabasses und der Bassklarinette. Zwischen den weit entfernten Schichten tat sich eine schwindelerregende Leere auf.

Computer als Instrument

Nicht nur architektonische und musikalische Zeitschichten vermischten sich am Montag, sondern auch zwei Konzertreihen. «Moment – Monument» heisst das Projekt, das Musik und Architektur in jeweils drei Anlässen in drei Jahren verbindet. Der zweite bildete am Montag gleichzeitig das Eröffnungskonzert der neuen Saison des Ensembles Ö!, die unter dem Titel «Städte und ihre Musik» läuft. Nebst den Musikerinnen und Musikern (Riccarda Caflisch, Flöten; Marc Lardon Bass-/Kontrabassklarinette; David Sontòn Caflisch, Violine; Genevieve Camenisch, Viola; Christian Hieronymi, Violoncello; Daniel Sailer, Kontrabass; Dylan Spence, Elektronik) waren Andri Probst (Klangregie), Men Duri Arquint und Roger Stieger (Ausstattung, Lichtdesign) am Projekt beteiligt. Bereits im Vorfeld gab Sounddesigner Andri Probst einen Workshop für Schulklassen, in dem die Akustik des Schutzbaus erforscht wurde.Frisch gestärkt vom Apéro, der zur Pause serviert wurde, und eingehüllt in wärmende Decken, erlauschten die Zuhörenden die dumpfen Haucher und Klappengeräusche, die wie Kobolde tönten, die unsichtbar von der einen Seite zur anderen huschten: Von der Passerelle herab, die die eintretenden Besucher etwas erhöht über die Ausgrabungen führt, spielte Riccarda Caflisch die «Passage» für stereoverstärkte Bassflöte solo von Makoto Shinohara (*1931). Anschliessend gab Dylan Spence (*1977) mit einer Uraufführung für Live-Elektronik eine Kostprobe einer anderen Richtung der zeitgenössischen Musik: Als Instrument dienten ihm ein Computer und ein Mischpult. Die Gestik des Musizierenden war natürlich völlig anders als jene eines «normalen» Instrumentalisten. Untrüglich war dafür das Signal, dass das Stück fertig sei: Dylan Spence klappte einfach seinen Laptop zu.

Weitere Anlässe: Moment – Monument III: 15. und 16. Oktober, 19 Uhr im Atelier Segantini, Maloja. Konzertreihe Ö!: Montag, 25. Oktober, 20 Uhr, Regulakirche, Chur.

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