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Schleuderdrama um Tantenregel

Die Invalidenversicherung (IV) zahlt nichts mehr für Schleudertrauma-Fälle, dafür dürfen Tanten weiter Kinder hüten. So wollen es Bundesgericht und Bundesrat, die damit frühere Entscheide umgestossen haben.

Südostschweiz
19.09.10 - 02:00 Uhr
Zeitung

Von David Sieber

Sind Behörden und Politik also doch lernfähig? Oder eventuell eher leicht beeinflussbar, wenn nur das populistische Getöse laut genug ist?Im Fall des Bundesgerichts wäre dies bedenklich. Schliesslich werden dort auf Basis von Verfassung und Gesetz Grundsatzentscheide gefällt, die weitreichende Konsequenzen haben können. Der am Montag publizierte Entscheid, wonach Menschen, die ein Schleudertrauma erlitten haben, aber den Nachweis «organisch bedingter Funktionsausfälle» nicht erbringen können, kein Anrecht auf Unterstützung der IV mehr haben, macht jedenfalls misstrauisch. Ein solches Pauschalurteil passt zu gut zur «Scheininvaliden»-Debatte, die von rechts seit Jah-ren sorgsam orchestriert wird und mittlerweile im Mainstream angekommen ist. Den Kollateralschaden einer solchen Rechtsprechung werden nun – statt der IV – Arbeitgeber und andere Sozialwerke zu spüren bekommen.Im Unterschied zur Judikative, die sich (eigentlich) nicht auf Volkes Stimme stützen darf, tut der Bundesrat gut daran, manchmal genau dies zu tun. Als Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf letztes Jahr ihre berühmte «Tantenregel» vorstellte, brauchte es keine gut geölte Partei-PR-Maschine, um die Empörung zu bewirtschaften. Grossmütter und -väter, Tanten und Onkel, Göttis und Gotten, die eine amtliche Bewilligung erwerben müssen, bevor sie ihre Enkel, Nichten und Patenkinder betreuen dürfen? Gottfried Keller hätte nie daran gedacht, sein Seldwyla um diese Absurdität zu bereichern. Das hat sich nun auch die Regierung gedacht, und am Freitag die entsprechende Bestimmung aus der Verordnung gekippt.Diese Beispiele zeigen: Bundesgericht wie Bundesrat (und dem Parlament sowieso) fehlt es manchmal an gesundem Menschenverstand. Wenn die feine Klinge gefragt wäre, wird der Zweihänder benutzt – und umgekehrt. Aber vielleicht gehen wir zu weit. Schliesslich dürfen sich Schleudertrauma-Patienten, die nicht mehr als solche anerkannt werden, bewilligungsfrei von ihrer Verwandtschaft betreuen lassen.

dsieber@suedostschweiz.ch

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