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Steinschlag: Die letzte Schwester am Vorder Glärnisch verliert einen Zacken

Mitte Juni löst sich am Vorder Glärnisch bei den Schwösteren eine Felsmasse von über zehn Kubikmetern. Gefährlich ist das wohl nicht. Aber es verändert den Blick auf den Glarner Hausberg.

Denise
Aepli
21.07.23 - 13:46 Uhr
Klima & Natur
Die Schwösteren haben keine Fenster mehr: Zwischen der Felsnadel und dem Hauptzacken gab es eine Bewegung. 
Die Schwösteren haben keine Fenster mehr: Zwischen der Felsnadel und dem Hauptzacken gab es eine Bewegung. 
Bild Markus Bissig

Markus Bissig interessiert sich sehr für die Natur. Seit über zehn Jahren schaut der ehemalige Präsident von Pro Natura Glarus durch seinen Feldstecher und hält Ausschau nach Gämsen und Greifvögeln auf dem Vorder Glärnisch. Am Freitag, 9. Juni, schaut er wie gewohnt durch den Feldstecher und betrachtet die Felsen der Schwösteren und deren Fenster. Drei Tage später bemerkt er dort eine Veränderung, die er nicht fassen kann. Er schildert: «Mit Schrecken habe ich festgestellt, dass bei den Schwösteren die Fenster verschwunden sind.» Von Glarus aus sah er bisher immer zwei Löcher oder Fenster bei den Schwösteren, daneben eine Säule.

Nachdem Bissig die Veränderung entdeckt hat, hat er das kantonale Departement Bau und Umwelt über seine Beobachtung informiert. «Dort hat man meine Meldung sehr ernst genommen und sie der Naturgefahrenkommission der Gemeinde Glarus weitergegeben», so Bissig. Häufig sind solche Stürze nicht. Die letzten grösseren Bewegungen bei den Schwösteren gab es vor 430 Jahren.

Die Schwösteren vor dem Felssturz: Sichtbar von Glarus aus mit dem Feldstecher sind die beiden Fenster.
Die Schwösteren vor dem Felssturz: Sichtbar von Glarus aus mit dem Feldstecher sind die beiden Fenster.
Bild Markus Bissig
Nach dem Felssturz: Mit dem Feldstecher gesichtet aus Glarus.
Nach dem Felssturz: Mit dem Feldstecher gesichtet aus Glarus.
Bild Markus Bissig

Gemeinde sieht kein Gefahrenpotenzial

Dominik Hauser war vor zwei Wochen auf dem Vorder Glärnisch, unter anderem um sich die Veränderung bei den Schwösteren anzuschauen. «Es ist kaum etwas zu sehen», sagt der Departementsleiter Wald und Landwirtschaft der Gemeinde Glarus auf Anfrage. «Ob zwischen dem Hauptzacken und der Säule ein Steg, also fester Fels, herausgebrochen ist oder ob es nur eingeklemmte Steine waren, kann ich nicht beurteilen», so Hauser. 

«Wir sehen das, was übrig bleibt, während das andere irgendwann mal weggebrochen ist.»

Tobias Ibele, Geologe

Von einer Gefahr für die Schwändner, Riederner oder Glarner geht Hauser nicht aus: «Die gelösten Blöcke sind entweder Richtung Schwändi über die Glärnischblanggen oder Richtung Glarus in die Wuestruus  gestürzt und wurden dabei zerschlagen. Da sich keine Infrastruktur in unmittelbarer Nähe befindet, sehen wir von der Gemeinde Glarus keine Gefahr für Personen oder Gebäude.» Die Schwösteren sind auf 1900 Meter, das Brunnenstübli zum Beispiel liegt 1300 Meter tiefer. «Nur schon das ist ein weiter Weg», so Hauser.

Die Bewegung habe keine Auswirkungen auf Wanderinnen und Wanderer, da kein Wanderweg an den Schwösteren vorbei führe, sagt Dominik Hauser. Auch für Kletterer seien keine Einschränkungen auf den Schwösteren vorgesehen.

Nur ein kleiner Felssturz

Vom kürzlichen Blockschlag am Vorder Glärnisch wusste der Ennendaner Geologe Tobias Ibele nichts. Die «Glarner Nachrichten» haben ihm die Vorher- und Nachher-Bilder des Ereignisses gezeigt. «Aus der Distanz ist wenig zu sagen, die Dimension scheint aber eher klein zu sein», schreibt der Geologe. «Das Besondere an diesem Ereignis ist, dass der Ausbruch an einer sehr markanten Stelle der Bergsilhouette passiert ist.» Das würde mehr Menschen auffallen, sei aber im Endeffekt genau die Art und Weise, wie Berge ihre Formen über Jahrtausende verändern: «Wir sehen das, was übrig bleibt, während das andere irgendwann mal weggebrochen ist.»

Der Ennendaner Geologe: Tobias Ibele sagt zum Felssturz, dass dessen Dimension nichts Aussergewöhnliches sei.
Der Ennendaner Geologe: Tobias Ibele sagt zum Felssturz, dass dessen Dimension nichts Aussergewöhnliches sei.
Archivbild

Der Geologe geht davon aus, dass das Ereignis am Vorder Glärnisch ein kleiner Blockschlag sei: «Zwar habe ich den Sturz selber nicht gesehen, wenn ich mir die Fotos anschaue, könnte es sich um ein Volumen von zehn bis 30 Kubikmetern handeln – erst ein Volumen von über 100 Kubikmetern wird als Felssturz definiert, darunter spricht man von einem Steinschlag oder Blockschlag.»

Ursache sind Witterungseinflüsse

Vor 420 Jahren war das Bild noch ein anderes: Damals waren es noch drei Schwösteren am Vorder Glärnisch – bis es zu einem Bergsturz kam. «Die beiden Ereignisse sind kaum vergleichbar», sagt Tobias Ibele. «Der jetzige Blockschlag ist viel kleiner. Müsste ich raten, so würde ich sagen, dass seit 1593 sicher zehn oder mehr solche Stürze niedergegangen sind.»

Dass sich nun weitere Felsmassen loslösen, sei möglich, sagt der Geologe. Genaueres könne man in Erfahrung bringen, wenn man sich den Fels anschaue und dort frische Risse fände. Er könne auch nicht beurteilen, ob wirklich Fels abgebrochen ist oder ob es lose Steine waren. 

Zum Blockschlag bei den Schwösteren sei es wegen des Wetters gekommen: «Den Witterungseinflüssen ausgesetztes Gestein erodiert. Dabei bilden sich unter anderem Klüfte, die mit der Zeit weiter werden können. Schon der Wechsel zwischen Erwärmung am Tag und Abkühlung in der Nacht kann zu kleinen Bewegungen führen, die mit der Zeit den exponierten Gesteinsverband schwächen.»

Klimawandel hat kaum Einfluss

So könne ein mit der Zeit lose gewordenes Felsstück abbrechen, sagt Tobias Ibele. «In diesem Sinn wird auch die Felsnadel an der Ostseite eines Tages abbrechen, vielleicht schon beim nächsten Niedergang an den Schwösteren. Wann das sein wird, wissen wir aber nicht», sagt Ibele. 

Wenn Permafrost auftaue, könne die darunterliegende Felsmasse instabil sein. «Das kann zu grossen Sturzereignissen führen wie im Bergell oder am Fluchthorn in Tirol. In der Schweiz ist Permafrost aber nur über 2500 Meter vorhanden. Weil die Schwösteren am Vorder Glärnisch tiefer liegen, spielt der Permafrost hier keine Rolle.» Somit habe der Klimawandel «wohl kaum» etwas mit diesem Ereignis zu tun.

Auf die Frage, ob Kletterer seiner Meinung nach in Gefahr seien, wenn sie sich bei den Schwösteren aufhalten, antwortet Ibele: «Nicht mehr als sonst. Kletterer sind im steilen Gelände immer in Steinschlaggefahr.» Vielleicht sei ein paar Tage direkt unterhalb des Ausbruches etwas mehr los, mit der Zeit werde sich die Bewegung aber wohl wieder dem «Normalen» annähern. 

«Etwas fehlt»

Die Fenster hatten für Markus Bissig einen emotionalen Wert. «Habe ich durch meinen Feldstecher geschaut, so blickte ich immer auf zwei helle Punkte. Jetzt sind sie weg. Es fehlt einfach etwas und das bedrückt mich», sagt er. «Jetzt schaue ich in den Himmel und nicht mehr an die Fenster.» Er fürchtet sich nicht vor einem Felssturz. Dass es auf den Bergen «rumpelt und tätscht», sei schliesslich normal: «Angst empfinde ich jetzt nicht, eher eine Art Neugier, wie es jetzt aussieht bei den Schwösteren.» 

Gesichtet: Markus Bissig aus Glarus entdeckte mit seinem Feldstecher eine Veränderung bei den Schwösteren am Vorder Glärnisch.
Gesichtet: Markus Bissig aus Glarus entdeckte mit seinem Feldstecher eine Veränderung bei den Schwösteren am Vorder Glärnisch.
Bild Denise Aepli

Denise Aepli hat eine Ausbildung als Wollenverkäuferin gemacht. Sie arbeitet seit 2022 als redaktionelle Mitarbeiterin bei den «Glarner Nachrichten» und interessiert sich für Politik, Ökologie, Soziales, Kunst und Kultur. Mehr Infos

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